Geschichte

Der alte Mann

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Eines Morgens, auf seinem täglichen Arbeitsweg, bemerkte Ole einen alten Mann. Er sass an einem sonnigen Plätzchen auf einer Bank. Neben ihm seine Gehhilfe. Er sass da. Jeden einzelnen Morgen. Zwei Wochen lang. Manchmal las er Zeitung. Angezogen war er immer tadellos und im Country Style.

Das ist Thorkild, ein 97-jähriger Gentlemen und Altersheim Resident. Er hat Ole’s Leben verändert. Und somit auch sein eigenes und dasjenige vieler älterer Menschen auf der ganzen Welt.

Fahrrad als Transportmittel

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Beim Durchstöbern alter Bilder von Kopenhagen aus dem Jahre 1930, die ein vergnügtes Fahrrad Inferno darstellen, realisierte Ole, dass Thorkild sich früher jeden Tag mit dem Fahrrad in der Stadt fortbewegt haben muss und es genauso genossen haben wird, wie er dies heute selbst tut.

In Städten wie Los Angeles, Rom, Tokyo und Sydney war das Fahrrad – über Generationen hinweg – DAS bevorzugte Transportmittel für zwei Drittel der Bewohner. Somit ist ein Grossteil der älteren Generation mit dem Fahrrad aufgewachsen. Und das in einer Zeit, in welcher 25km oder mehr zur und von der Arbeit ziemlich normal war. Denn in den frühen Jahren nach dem Krieg war das Fahrrad eine günstiges, einfaches und effizientes Fortbewegungsmittel um von A nach B zu gelangen.

In den 50ern und 60ern wurde das Fahrrad langsam aber sicher durch das Auto ersetzt. In einigen Städten, wie z.B. Kopenhagen, hat das Fahrrad in den späten 70ern und frühen 80ern es jedoch geschafft, sich in der Gesellschaft wieder zu etablieren und gehört heute zu den wichtigste Fortbewegungsmitteln in der Stadt.

Älter werden

Beim älter werden erschweren uns zunehmend unsere Beine und Augen das Fahrradfahren. Meist um die 70 lassen wir es dann ganz sein. Ole hat viele Geschichte von älteren Menschen gehört, die schweren Herzens das Fahrradfahren aufgeben müssten, weil sie Angst hatten, sich zu verletzen. Es waren Geschichten über die Sehnsucht nach Freude und Freiheit und persönlicher Mobilität.

Eine verrückte Idee

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All diese Sachen brachten Ole zum Nachdenken: Der alte Mann, Thorkild, er würde wohl auch das Fahrradfahren vermissen. So fragte sich Ole, wie er diesen alten Mann zurück auf das Fahrrad bringen könnte. Es war eine dieser Ideen, die ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte. So tauchte Ole eines Morgens im August 2013 vor dem Altersheim mit einer gemieteten Rickshaw auf. In diesem Moment realisierte Ole, dass es wohl eine verrückte Idee war und dass er sehr wahrscheinlich aus dem Altersheim herausgeschmissen werden würde. Dennoch war es für ihn einen Versuch wert.

Als er das Altersheim betrat, kam eine freundliche Pflegerin auf ihn zu. Er erklärte ihr, dass er ein Nachbar sei und mit seiner Rikscha zwei Residenten eine Stadtrundfahrt anbieten möchte.

Das hätte auch das Ende der ganzen Geschichte sein können, aber die freundliche Pflegerin sagte zu ihm: «Das tönt nach einer guten Idee. Lass mich das mal kurz abklären.» Sie verschwand in die Kaffeteria und tauchte zwei Minuten später mit einer älteren Lady unter ihrem Arm wieder auf und sagte: «Gertrud und ich würden liebend gerne eine Ausfahrt mit der Rikscha in die Stadt machen.»

Als sie vorne in der Rikscha Platz genommen haben fragte Ole Gertrud, wo sie gerne hin möchte. Sie antwortete promt, dass sie nach Langelinie wolle, die Hafen-Promenade, zu welcher es früher aller Kopenhagener für einen Sonntagsausflug mit ihren Fahrrädern hinzog, um ein ‹Glace› zu essen und am Ufer entlang zu schlendern.

Während dem Ausflug erfuhr Ole, dass Gertrud eine spezielle Beziehung zu diesem Hafen hat. Sie erzählte ihm, dass sie nach dem Krieg für viele Jahre in Grönland gelebt und dass sie ihre Kinder immer zu diesem Hafen gebracht habe, weil hier die Schiffe nach Gröndland andocken. Sie sagte voller Enthusiasmus zu Ole, dass sie den Teer riechen, die Möwen hören und die Dynamik der Menschenmasse von dazumals spüren könne.

Der Ausflug dauerte etwa eine Stunde. Als Ole mit den zwei Ladies zurück im Altersheim war verspürte er eine enge Bindung zu dieser unbekannten Gertrud. Es war für ihn, als sei er mit ihr auf einer Zeitreise gewesen.

Die Folge

Am nächsten Tag bekam Ole einen Anruf der Geschäftsführerin des Altersheims. Sie wollte wissen, was er mit Gertrud gemacht habe. Denn jetzt würden plötzlich alle anderen Residenten auch einen Ausflug mit einer Rikscha machen wollen. Ole dachte sich: Die Erfahrung muss Gertrud emotional zutiefst berührt haben.

So mietete Ole die Rikscha ein weiteres Mal und fing in seiner Freizeit an, regelmässig Ausflüge mit den Leuten aus dem Altersheim zu machen. Dies gab ihnen eine völlig neue Mobilität und Ole einen wunderbaren, neuen Einblick in die Stadt. Zudem entstanden viele aussergewöhnliche, generationsübergreifende Freundschaften. Ole fühlte sich wie ein Forscher in noch unberührtem Territorium.

Jetzt wieder zu Thorklid, dem 97-jährige Gentlemen auf der Bank: Ole nahm ihn eines Tages mit auf einen Ausflug. Beim Durchqueren eines Parks sagte Thorkild plötzlich «Hier habe ich mal gewohnt!» und zeigte auf die alten Militärhäuser des Rosenborg Schlosses. So erfuhr Ole, dass Thorkild 1938 – vor 76 Jahren – für 18 Monate als königlicher Wachmann diente. Zudem erzählte Thorkild ihm, dass er 25 Jahre lang ein Lingerie Geschäft im Herzen von Kopenhagen führte und erklärte ihm, wie man die Körbchengrösse einer Frau einschätzen kann. Da merkte Ole, dass er noch viel – vom Leben – zu lernen hat.

Die Stadt Kopenhagen

Ole hat für sich entscheiden, dass all diese Abenteuer einfach zu gut waren, um nicht auch weitere Leute zu involvieren. Deshalb schrieb er der Stadt Kopenhagen einen Brief, in welchem er erklärte, was er tat und ob sie bereit wären, eine solche Rikscha dem Altersheim zu sponsern (die dänischen Altersheime sind von der öffentlichen Hand und nicht privat geführt).

Zu seiner Überraschung rief ihn eine enthusiastische Frau namens Dorthe wenige Wochen später zurück. Sie erzählte ihm, dass sie genau solch eine Art von aktiver Mitbürgerschaft suchen und unterstützen wollen und fragte ihn, ob er auch an fünf statt nur einer Rikscha für fünf verschiedene Altersheime interessiert sei.

Ausgestattet mit fünf Rikschas brachten Ole und Dorthe Freunde und Einheimische zusammen und organisierten einen Parade durch die Stadt. Über 100 Menschen sind gekommen und haben auf ihrem eigenen Fahrrad die fünf Rikschas und ihre zehn Passagiere begleitet. Zwei Fernsehstationen und verschiedene nationale Zeitungen haben darüber berichtet und plötzlich hatte Ole 30 Freiwillige, die sich angemeldet haben, um die Leute aus dem Altersheim regelmässig auszufahren.

So war Radeln ohne Alter geboren.

Unglaubliche Wirkung

Sehr schnell hat sich Radeln ohne Alter in anderen Städten in Dänemark und Norwegen herumgesprochen und etabliert. Das Feedback der Altersheime war grossartig:

  • Einige Leute aus dem Altersheim haben wieder begonnen zu sprechen.
  • Leute, die an Demenz litten, haben ihre Aggressionen verloren und kehrten nach dem Fahrradausflug mit guter Stimmung ins Altersheim zurück.
  • Blinde Residenten erklärten den Freiwilligen, dass es beim Fahrradfahren um die Nutzung aller Sinne ginge: die Blumen riechen, das Gezwitscher der Vögel hören und den Wind in den Haaren spüren.

Und Ole konnte dem nur zustimmen: «Wir kämpfen für das Recht von älteren Leuten, auch im hohen Alter noch den Wind in den Haaren spüren zu können.

Verlust von Augenzeugen

Wenn wir älter werden verlieren wir die Zeugen unserer Geschichten und unseres Lebens. Stellen Sie sich vor, niemanden zu haben, der das erlebt, was Sie gerade in diesem Moment erleben. Stellen Sie sich vor, niemanden zu haben, mit dem Sie lachen oder weinen können. Und stellen Sie sich vor, dass ihre Geschichten bald mit Ihnen selbst verschwinden werden.

Was Ole am meisten erstaunt hat ist, wie einfach man mit einem Fahrradausflug einen tiefgreifenden, positiven Effekt auf die Lebensqualität von Menschen haben kann. Nicht nur für die älteren Leute, die aus ihrer sozialen Isolation ausbrechen können. Auch für die Freiwillige, die Freude verspüren, anderen – aber auch sich selbst – etwas Gutes tun zu können.

Diese Erlebnisse ziehen nicht nur die klassischen Freiwilligen an. Bei Radeln ohne Alter geht es weniger um Volontärsarbeit im traditionellen Sinne. Es geht vielmehr um aktive Mitbürgerschaft. Eine Mitbürgerschaft, die getrieben ist durch das Verlangen nach Einbezug und der Chance, einen wirklichen Unterschied für jemanden machen zu können. Es geht um das Aufbauen von Freundschaften und Beziehungen zwischen Menschen.

Roberto, einer der Rikscha-Piloten, ein Gentlemen in seinen 60ern und italienischer Abstammung, hat auf Verschreibung mit Radeln ohne Alter begonnen. Sein Arzt sagte ihm, er müsse ein paar Kilos abnehmen und sich mehr bewegen und verschrieb ihm darauf eine Medizin: Radeln ohne Alter.

Freundschaften

Ein junger Volontär hat neue Grosseltern gewonnen, als er ein älteres Ehepaar zu ihrem 70. Hochzeitstag ausgefahren hat. Ihre Stadtrundfahrten werden bereits lange nicht mehr im Voraus geplant. Denn er geht nicht, weil er gehen muss. Er geht, weil er gehen möchte. Und weil es ihm Freude bereitet.

Ole staunt immer wieder von Neuem über die positiven Geschichten und Erfahrungen, welche die Freiwillige der über 111 Altersheime, die bereits heute Teil der Bewegung sind, mit ihm teilen. Und der Anblick von Leuten in Rollstühlen, die glauben, dass sie niemals mehr Fahrradfahren werden und nach einer Ausfahrt mit der Rikscha lachend und singend ins Altersheim zurückkehren, mit vielen Geschichten und neuem Apetit auf das Leben, macht ihn glücklich. Diese Art von positivem Effekt nähren Ole’s Enthusiasmus und holen ihn jeden Morgen aus dem Bett.

Thorkild’s Geburtstag

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Mit einem guten Glas Wein stiessen Ole und Thorkild an dessen 97. Geburtstag auf ihre neue Freundschaft an. Zur Feier des Tages kam der Kellner mit zwei Spezialweingläser.

An diesem Abend haben Ole und Thorkild mit mehr als 50 Fremden in Kopenhagen gesprochen. Menschen, die zu ihnen kamen und mit ihnen diesen speziellen Moment teilen wollten.

Was Ole von Radeln ohne Alter gehlernt hat ist, dass das Leben schön sein kann und schön sein soll – auch für Leute die gegen die 100 Jahre gehen. Das Leben in Altersheimen kann und soll ein Ort der Freude und Mobilität sein.

Auch Sie können ein Familienmitglied, einen Nachbarn oder auch einen Fremden aus dem Altersheim einladen und ihn auf eine Reise durch die Zeit und durch die Stadt bzw. Dorf mitnehmen, dabei besseres Leben ermöglichen, neue, ungewöhnliche aber schöne Freundschaften knüpfen und Brücken zwischen Generationen bauen.